Lyrik

Den Yeti in sich selbst gefunden

„Heute Morgen ist meine Sehnsucht / nach Rom so groß, dass ich / auf die Live Webcam Piazza Navona klicke…“ So beginnt das Gedicht „Quarantäne 2“ von Ludwig Steinherr und so äußert sich des Poeten Fernweh in diesen seltsamen Zeiten. In seinem neuen Gedichtband „Die weißen Freuden des Yeti“ nimmt der Lyriker den Leser mit auf Reisen an ferne Orte – wie praktisch, wenn man gerade nicht selbst unterwegs sein kann! Ägypten, Italien, das Meer, das Wetter, das Hotelzimmer, sogar Zahnschmerzen. In wunderbare Poesie verpackt.

Aber auch das hier und jetzt kann als ein Abenteuer, eine Reise, eine Expedition empfunden werden, selbst Reisen in die Zeit werden in Ludwig Steinherrs Poesie auf das Feinste mit der Gegenwart verwoben.

DIE NACHBARIN SAGT

Das Römische Imperium
ist untergegangen –
Die Barbaren haben uns überrannt –
Obwohl man zugeben muss:
der tätowierte Typ
mit dem Hunnenzopf
der jetzt die Post bringt
ist freundlicher
als der alte

Begegnungen mit sich selbst, mit anderen und mit dem (eigenen) Altern, dem Ende – sie nehmen einen großen Platz in diesem Gedichtband ein. Da ist er nun, der Yeti mit seinen weißen Haaren, der sich allmählich von den Menschen entfernt. Und ein Aufeinandertreffen muss nicht zwingend ein erneutes Wiedersehen nach sich ziehen.

 

LETZTER BESUCH

Nie war er weise
aber jetzt hängen seine Ohren so schwer
wie die Ohren Buddhas –

Nie erklomm er Gipfel
aber jetzt sieht sein Häuflein Knochen aus
als wäre er in eine Gletscherspalte
gestürzt –

Die geklebte Brille
mit dem abgeknickten Bügel
liegt auf dem Nachttisch
wie die abgerissene Tragfläche einer 747 –

Und die Black Box
wenn es sie je gab
mit letztem Gestammel
ruht irgendwo
tief tief im Meer

Ludwig Steinherr gelingt es, die großen Themen mit dem Alltäglichen, dem Vertrauten zu verknüpfen, das Unfassbare in Worte zu fassen. Dabei kreuzt die Antike den Weg des Lesers genauso wie Mark Rothko oder die Katze einer Opernsängerin. In den Gedichten des Münchner Lyrikers geht es um Tod und Tattoos, um Blitze und Bienen, um Weltall und Weisheitszähne. Ach ja, Bigfoot und Nessie schauen auch vorbei. Und diese Poesie gelingt ihm stets so leicht, dass man sich fragt: Wie macht das dieser Dichter nur? Einen kleinen Hinweis darauf, dass auch er durchaus um Worte „ringen“ muss, liefert das Gedicht „Seit Wochen kein Gedicht“, das ebenfalls in „Die weißen Freuden des Yeti“ enthalten ist.


Ludwig Steinherr

Die weißen Freuden des Yeti
Gedichte
Lyrik Edition 2000
Allitera Verlag

ISBN 978-3-96233-251-8