Belletristik

Eine rätselhafte Liebeserklärung

Was ist nicht schon alles über Beziehungen geschrieben worden. Aber sicherlich noch nicht so, wie Ludwig Steinherr es in seiner Novelle „Der Carolin-Papyrus“ tut. Denn hier verfasst der lebende Liebende Julian ein Manuskript, das er seiner geliebten Carolin erst nach seinem Tod überlassen würde. Es sollte kein Tagebuch sein und auch kein Brief, sondern eine Schrift ohne Datierung.

„Sie soll eine immer neue Liebeserklärung an dich sein. Ein Hymnus. Eine heilige Schriftrolle. Geheiligt durch das, was alle heiligen Schriften heiligt: durch den Tod und sein Gegenteil – die Überwindung des Todes. Etwas, das wie im Wüstensand vergraben wartet, um plötzlich in Jahrzehnten vor deinen Augen zu leuchtender Gegenwart aufzuerstehen. Wie die Qumran-Rollen. Ein altägyptischer Papyrus. Der Carolin-Papyrus.“

Und so beginnt der arbeitslose Akademiker seine Gefühle und Gedanken nieder zu schreiben. Aus der Sicht des Toten. Eine gute Idee? Die Beziehung zwischen der Schulreferendarin und dem Philosophen auf Arbeitssuche wird dadurch einer Analyse unterzogen, die ihr womöglich gar nicht gut tut: „Heute hast du einen Satz gesagt, den ich nicht vergessen kann. Du hast gesagt: Was ich einfach nicht ertrage, ist die Tatsache, dass mein Leben so banal ist.“

Es tun sich Risse auf. Beim Zusammentreffen mit Freunden, im Gespräch über ihre Arbeit und seine Suche danach. Der Lebende trifft auf Melissa, die beste Freundin seiner kleinen Schwester. Sie absolviert gerade ein Praktikum in Medizintechnik und arbeitet an einer künstlichen Lunge aus dem 3-D-Drucker. Sie treffen sich. Sie fasziniert ihn, erzählt ihm von ihrer Angst, an einem Gehirntumor zu leiden. Er betet für sie.

Und mittendrin kreuzt mit Gabriel Stürzer ein Freund Julians und ein Anti-Freund Carolins auf. Das Ende ihrer Begegnung beschreibt der Autor so wunderbar, dass im Kopf des Lesers die passende Geräuschkulisse entstehen muss: „Wieder wühlte seine Hand in der Erdnussschale. Wieder zerkrachten die Nüsse zwischen seinen Zähnen. Das Geräusch. Jetzt wusste ich, woher ich es kannte. Meine Kinder-CD damals: die Odyssee. Das Krachen, als Polyphem die Gefährten des Odysseus fraß.“

Der Papyrus wird um weitere Zeilen gefüllt. Die Beziehung leidet, bis Julian das Schriftstück schließlich aus Hilflosigkeit – noch zu Lebzeiten – an Carolin übergibt. Was als Manifest der Liebe gedacht war, hat offenbar das Gegenteil bewirkt. Oder doch nicht?

Ludwig Steinherr beschreibt in „Der Carolin-Papyrus“ die Erosion einer Liebe. Er mischt das Alltägliche der Lebenden mit dem Blick des Toten und lässt dadurch die Personen und ihre Beziehungen immer mysteriöser erscheinen. Die Sprache Steinherrs lässt auch in diesem Prosatext den großartigen Lyriker erkennen. Worte werden präzise gesetzt. Gerne knapp. Es funktioniert. Ein Leseerlebnis.

Ludwig Steinherr
Der Carolin-Papyrus
Novelle
Allitera Verlag
www.allitera.de
ISBN 978-3-96233-350-8